WG104 – Briefentwurf an Alma Mahler
Berlin, Donnerstag, 17. November 1910

Mein Sohn, von Dir, wäre
eine viel größere Tat e wert-
vollere Tat, als die Frucht
meiner armseligen Arbeit.
Daran glaube ich; was ich
Dir damals im Orientzug
gestand war keine Exalta-
tion, ich fühle noch genau
so. Neben einem so merk-
würdigen, elementaren
Empfinden das Dich ja
in gleicher Weise beherrscht
treten selbst alle egoisti-
schen Wünsche zurück u. der
natürliche Instinkt
kümmert sich nicht im
geringsten um menschliche
Verstandesinstitutionen.
Wir brauchen Glück um
diese überwinden zu
können und die lähmen-
de Zeit abzukürzen zu
können. Gefahren liegen
eigentli mehr in uns
selbst als außer uns.

Man kann es \oft/ tragisch beobachten,
wie Hindernisse in d bei in
\die sich/ einer Leidenschaft \entgegenstellen/ die Lieben-
den reitzbar [!] machen und
so trotz der größten gegenseitigen
Zuneigung allmählich einen
unerträglichen Zustand
zuspitzen. Ich denke an
das Verhältnis zw. Anna
u Wronsky (in ). Als
Du neulich schriebst, noch nie
sei eine Mißstimmung
zw. uns gewesen, wurde mir
klar, was von welcher Be-
deutung das gerade unter
den obwaltenden \schwierigen/ Umständen
\die die Menschen empfinden u
leicht verwundbar machen/ ist. Meine Liebe ###, laß
uns gegenseitig auf der Hut
sein, daß falls wir noch lange
ruhelos leben müssen, daß
kein \wie bisher/ nie um auch nur ein
Funken Schatten von Un-
mut im andern ent-
stehte, durch quälende \unbegründete/
Eifersüchte\leien/ fehlende Nach-
richten u a. Wir dürfen
nicht \wirklich/ nie über Lappalien

stürzen.
Unsere Liebe darf nie
„düster u lastend“ werden
\Wenn Du
liest, weißt Du, was ich meine/
In Dingen, die einen von Grund
aus interessieren ist man eben
gründlich, wie viel mehr noch
in einer Leidenschaft, die
man als entscheidend für
die eigne Zukunft erkannt
hat. Deshalb \mißtraue \ich/ uns selbst/ \u/ suche ich die
Feinde unserer Liebe auf, um
uns gegen sie zu wappnen. und
brachte in jene Winkel un
Das natürliche Freiheitsgefühl
wehrt im Menschen wehrt
sich lange, aber – meine
Liebe hat in diesen Über-
legungen u Kämpfen nichts
verloren, die Notwendigkeit
ihres Fortbestehens ist aber
desto größer geworden. Darum
bin ich überzeugt, daß Dich meine
Briefe eher beruhigen als erregen

    werden.

Unwillkürlich mußte ich [unleserlich gemacht]
vergleichen und vergegenwärtigte
mir meine Gefühle, die
gewesenen und vielleicht
kommenden in Beziehung
auf unsere Liebe. Jede \Die/ Exalta-
tion, die Deine Nähe
mir immer giebt \gab/ und den
Verstand umnebelte, ist von
gewichen. Ich denke in diesem
kühlen einsamen Winter
alle denkbaren und undenk-
bare Beziehungen zw. uns
durch mit kühlem Ver-
stande durch, erwäge sie
ohne Rücksichten für u wider
– das Resultat fällt immer
zu Deinen Gunsten aus.
Meine Liebe \all meine Weibersehnsucht/ verfolgt mich
als etwas rätselhaftes
geheimnisvolles, das ich nicht zu
verstehen vermag aber ich
weiß nun we eine Antwort
auf meine quälende Selbst-
frage, wozu ich auf der Welt
bin. – Lewin’sche Geburt


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

4 Bl. (4 b. S.) – Viertel eines Papierbogens.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Antwort auf AM46 vom 8. November 1910 (Noch nie war ein Missklang in unsrer Liebe): Als Du neulich schriebst, noch nie sei eine Mißstimmung zw. uns gewesen, wurde mir klar, was von welcher Bedeutung das gerade unter den abwartenden \schwierigen/ Umständen \die die Menschen empfinden u rasch verwundbar machen/ ist.

Datierung

WG vermerkte auf dem Umschlag von AM46 das Eingangsdatum des Briefes mit dem 17. November 1910. Am selben Tag ging laut seiner eigenen Liste abgesandter Briefe (WG92) der Brief Nr. 10 ab, weshalb naheliegt, dass WG104 einen Entwurf zu jenem 10. Brief WGs darstellt und am 17. November entstand.

Übertragung/Mitarbeit


(Tim Reichert)


A

damals im Orientzug – von Wien nach Paris im Oktober 1910.

B

Anna K.[arenina] – Bereits in WG78 vom 3. Oktober 1910 und WG95 vom 6. bis 8. November 1910 hatte auf den Roman von Bezug genommen.

C

„düster u lastend“ – s. WG78 vom 3. Oktober 1910: Daß unsere Liebe niemals düster u lastend werde. Zitat aus , Zweiter Band, Sechster Teil, Abschnitt 31: „Diese harmlose Zerstreuung […] jene düstere, lastende Liebe […].“

D

Lewin’sche Geburt – Geburt des Kindes von Konstantin Ljewin und seiner Frau Jekatarina, genannt Kitty, Figuren aus , s. WG78 vom 3. Oktober 1910.